Tipps für eine geeignete und achtsame Yogapraxis

Warum eigentlich Yoga praktizieren? Warum meditieren?

Diese Fragen richten sich an jene, die gerade erst anfangen sowie an alle, die bereits regelmäßig praktizieren. Darüber nachzudenken, ist sehr wichtig, da man der eigenen Yogapraxis Sinn und Orientierung verleihen kann. Die Antwort entwickelt sich mit der Zeit, dem Alter, den Lebensumständen (Unfälle, Krankheiten…). Jeder von uns kann es ausüben, da sich Yoga an uns anpasst.

Weder ein bestimmtes Alter noch ein perfekter Gesundheitszustand wird von derjenigen oder demjenigen verlangt, die oder der mit Yoga beginnt. „Hatha Yoga Pradipika“ (siehe Anmerkung 1) oder auch „kleine Leuchte des Hatha Yoga“ genannt, erklärt im 1. Kapitel Vers 64, dass sich Yoga ebenso an junge Menschen wie auch an reifere, ältere oder kranke und schwächere Personen richtet.

Die häufigste Motivation ist der Wunsch nach mehr Ruhe und Ausgeglichenheit in einer Welt, in der das Berufsleben häufig sehr intensiv und fordernd ist. Abstand nehmen, sich ein paar Momente lang ausruhen, sich Zeit für sich nehmen, sind häufig genannte Gründe, auch seinem Körper etwas Gutes tun, dabei gelenkiger werden, Energie tanken und Lebenskraft schöpfen.

Yoga spricht in den meisten Fällen genau diese Wünsche an. Eine Schnupperstunde vergeht, danach folgen vielleicht die einen oder anderen Yogaeinheiten, und interessanterweise bleiben immer noch Fragen offen, die nicht zur komplett zufriedenstellenden Antwort führen. Sogar bei einer fortgeschrittenen und regelmäßigen Yogapraxis können Zweifel und Unsicherheiten aufkommen, die den Yoga-Praktizierenden/die Yoga-Praktizierende erneut nach dem Sinn seiner/ihrer Praxis fragen lässt.

Körperhaltungen, Techniken zur Verlängerung des Atems, Konzentrationsübungen und auch Meditation sind Teile eines Yogakurses. Jede einzelne Übung lässt uns auf ihre Art und Weise etwas über uns herausfinden. War ich zu ehrgeizig oder zu nachgiebig in der einen oder anderen Haltung? Hätte ich sie anders ausführen können oder sollen? Hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren? Oder fiel es mir leicht? Wie kann ich mich von allen Ablenkungen lösen? Wie kann ich achtsamer mit meiner Atmung umgehen? Wie kann ich dem Wechselspiel zwischen Ein- und Ausatmen aufmerksam begegnen? Wie kann ich Geist und Körper miteinander verbinden?  Warum so viel Unruhe? Warum bin ich gerade so abgelenkt und zerstreut?

Nicht auf jede dieser Fragen erhalten wir immer sofort eine Antwort. Die Yogapraxis unterstützt uns aber dabei, unser Feingefühl zu stärken, eher zu spüren, anstatt viel nachzudenken und unsere intuitive Intelligenz zu entwickeln. Dadurch können wir Schritt für Schritt dank unseres Körpers mehr ausprobieren und eine wertvollere Beziehung zu uns selbst aufbauen, die aufschlussreich und respektvoller sein kann. Wir lernen uns in unserem Körper und Geist besser kennen. Wir entwickeln ein größeres Verständnis, mehr Nachsicht und Toleranz gegenüber uns selbst. Und auf ganz natürliche Art und Weise nehmen wir die gleiche Haltung gegenüber anderen ein. Wir verbinden uns besser mit unserem Inneren, stehen im Einklang mit uns selbst, und wir begegnen der Beziehung mit den anderen und der Welt im Ganzen mit mehr Selbstvertrauen, Offenheit und Ausgeglichenheit. Aus diesen Gründen üben wir Yoga und meditieren.

Somit sollte man immer eine Antwort auf die Frage wagen: Warum eigentlich Yoga praktizieren und meditieren?

Yoga sieht sich als persönliches Engagement, eine Lebensart und vielleicht auch eine Lebenskunst, jedoch nicht als Glaubensakt.

Stück für Stück wird es Teil unseres Lebens, unseres Alltags und wird morgens und abends zu einem Ritual.

Obwohl wir aus uns keine Weisen machen, gewinnen wir doch ein bisschen mehr an Weisheit.

Der wichtigste Tipp für eine geeignete und achtsame Yogapraxis ist die Akzeptanz und Toleranz, die wir uns selbst gegenüber an den Tag legen:

  • Die eigenen körperlichen Grenzen akzeptieren ist ein Realitätsprinzip. Mit der Zeit erweitern sich diese im Allgemeinen. Dadurch sind wir die Akteure unserer Praxis und führen nicht ein von außen aufgezwungenes Modell aus. Wir praktizieren Yoga nicht durch oder über andere. Unser Körper zeigt uns sehr schnell, wo unsere Grenzen liegen. Sie zu kennen, ist das Eine. Sie anzuerkennen und danach zu handeln das Andere. Verstand und Bescheidenheit sind am Werk, zu unserem besten Nutzen.
  • Sich immer wieder anpassen. Uns werden beim Yoga durch den Dialog mit unserem Körper Wege eröffnet: entweder stur bleiben, die eigenen Grenzen nicht akzeptieren, uns verletzen, sowohl körperlich als auch geistig (Verletzung aus Stolz) oder uns anzupassen. Eine Körperhaltung einzunehmen bedeutet, ein instabiles Gleichgewicht einzugehen, in dem man sich wohlfühlt und gleichzeitig eine Spannkraft entwickelt. Ein schmaler Grat, der viel Geschick und Achtsamkeit erfordert. „Stabil und angenehm soll die Haltung sein“, sagen uns die Yoga-Sūtra (siehe Anmerkung 2) von Patañjali (Yoga-Sūtra II, 46). Die Anpassung findet permanent statt, für das Aufgeben gibt es keinen Platz. Sich immer weiter bemühen, und zwar mit Bedacht auf die eigenen Grenzen.
  • Akzeptieren, dass alles Zeit braucht: Yoga ist ein experimenteller Weg. Manchmal hat man den Eindruck, Fortschritte zu machen, dann sieht man wiederum nur die Rückschritte. Nur die Bewegung und die Richtung zählen. Fortschritte erlebt man häufig, oft auch versteckt, und sie sind schwierig zu messen. Sie verändern jedenfalls die Art unseres Seins, unsere Verhaltensweisen und prägen unseren Alltag.
  • Akzeptieren, dass all das kompliziert sein kann. Dies ist häufig sehr schwierig. Wir in unserer westlichen Welt wurden im Allgemeinen in dem Konzept erzogen, dass man mit sich kämpfen muss, über seine Grenzen hinausgehen, dass der Wille stark sein muss. Akzeptieren würde jedoch bedeuten, davon abzukehren und sich in der Kategorie der Schwachen einzuordnen. So eine Geisteshaltung ist sicherlich die Quelle vieler körperlicher, emotionaler und mentaler Spannungen. Man macht daher eine grundlegende Entwicklung durch, die einiges an Kraft, Durchhaltevermögen und Entschlossenheit erfordert. „Hatha Yoga Pradipika“ nennt eine bestimmte Anzahl von Faktoren, um im Yoga weiterzukommen, darunter Energie, Bereitwilligkeit, Durchhaltevermögen, Bestimmtheit (Vers I.16).

Krankheiten können immer wieder unser Leben auf den Kopf stellen. Angesichts einer Operation, einer längeren Behandlung, einer schweren Depression sind all diese guten Ratschläge viel schwieriger zu befolgen. Ist die Yogapraxis damit unvereinbar? Hier eine allgemeingültige Antwort zu geben ist nicht möglich: Es bleibt eine Frage des gesunden Menschenverstands. Eine Betrachtung je nach Fall der Krankheitssymptome, der einschränkenden Faktoren oder Beschwerden sollte der Schlüssel zur Antwort sein.

Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass eine angepasste und geeignete Praxis möglich ist. Störungen oder Behinderungen körperlicher Natur ermöglichen es zum Beispiel, eine Praxis anzustreben, die Atem- und Konzentrationsübungen sowie die Meditation in den Mittelpunkt stellt. Der Patient/die Patientin ist der Krankheit und den damit verbundenen Behandlungen ausgesetzt. Er oder sie ist nicht immer komplett in der Lage zu verstehen, was gerade mit ihm/ihr passiert und was ihm/ihr zur Bekämpfung der Krankheit angeboten wird. Er oder sie ist im Umgang mit der Krankheit passiv, kann nichts anderes tun als vertrauen und lässt sich eventuell von Zweifel, Angst und Panik überrollen.

Yoga ist im Gegensatz dazu eine aktive Herangehensweise, die zu Autonomie und innerer Freiheit verhilft.

Eine Krankheit gibt in der Yogapraxis sicherlich eine gewisse Bescheidenheit und einen bestimmten Realitätsbezug vor. Yoga hilft der erkrankten Person, sämtliche Gefühle aller Art wahrzunehmen, wieder ein selbstbestimmter Akteur ihres Lebens zu werden und Vertrauen zu gewinnen. Regelmäßigkeit und Disziplin sind wichtige Begleiter der Yogapraxis. Eine fast schon zum Ritual gewordene Praxis in der Früh oder am Abend verleiht Orientierungspunkte und gibt im Alltag einen Halt. Sie sind wie Etappenziele oder Meilensteine, die uns leiten und uns in eine Perspektive rücken lassen.

Unser Körper ist unser Freund, unser Begleiter fürs Leben. Manche glauben sogar, er sei uns einfach nur auf Zeit geborgt oder gar ein Tempel, der etwas Göttliches beherbergt. Jedem und jeder seinen oder ihren Glauben, aber die Botschaft bleibt dieselbe: Wir sollten unserem Körper zuhören und auf ihn achten.

Jérôme, Wien

 

  1. „Hatha-Yoga-Pradīpikā“ bedeutet übersetzt „kleine Leuchte des Hatha-Yoga“ und ist ein von Svātmārāma im 15. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in der getreuen Fortführung einer älteren Lehre verfasstest Werk. Es wird der fast schon legendären Persönlichkeit Goraksanātha zugeschrieben, der die Verbreitung der Grundsätze und Methoden, insbesondere des Hatha-Yoga in Indien nachgesagt wird. In vier Hauptkapiteln behandelt das Buch (1) Voraussetzungen für eine Yogapraxis und 15 Grundhaltungen, (2) Techniken zur Atmung und Kontrolle, (3) energetische Körperverschlüsse sowie Erweckung innerer Energien und (4) Meditation, die eine Zielrichtung in der Yogapraxis darstellt. „Hatha-Yoga-Pradīpikā“ wird in bestimmten Yogaschulen eingehend gelehrt, wie zum Beispiel in der „École Française du Sud-Est“, in der Aliette und ich mit einigen anderen den Unterricht von Boris Tatzky genießen durften. Wir nehmen weiterhin an den Fortbildungskursen der Schule teil.
  2. „Yogasutra“ von Patañjali ist eine Sammlung von 195 Versen über Yoga. Ihre Datierung ist ungewiss und fällt je nach Untersuchungen der Forscher unterschiedlich aus. Derzeit spricht man vom 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Vom Autor Patañjali ist nur wenig bekannt. Die „Yogasutra“-Sammlung umfasst vier Kapitel: Samādhi oder der Zustand der Enstase, die Methode oder Strategie, die außergewöhnlichen Fähigkeiten und die totale Freiheit. Sie beschreiben vor allem die acht Säulen des Yoga oder “Ashtang Yoga” (Verhaltensregeln, ethische Richtlinien, Körperhaltungen, Atemkontrolle, Rückzug der Sinne, Konzentration, Meditation und Samadhi).